Oliver Plaschkas historischer Roman "Marco Polo - Bis ans Ende der Welt"
Den Namen kennt wahrscheinlich jeder: Marco Polo nennt man in einem Atemzug mit Kolumbus, auch wenn seine historische Leistung nicht in der Entdeckung, sondern der ausführlichen Beschreibung eines weit entfernten, aber seit langem bekannten Reiches lag.
Doch war Marco Polo wirklich in China und am Hof des Mongolenherrschers Kublai Khan? Oder hat er bloß aus fremden Quellen abgekupfert und den Rest erdichtet?
Mit dieser Ambivalenz spielt Oliver Plaschka in seinem Roman "Marco Polo - Bis ans Ende der Welt" (erschienen bei Droemer, November 2016). Marco Polo diktiert dem Schriftsteller Rustichello da Pisa in ihrer gemeinsamen Haft seine Lebensgeschichte: die jahrelange, gefahrvolle Reise zusammen mit Vater und Onkel quer durch Asien, die Audienz beim Khan, seine Tätigkeit für ihn als Statthalter und die verbotene Liebe zu dessen Tochter Kokachin. Nicht nur Rustichello zweifelt immer wieder am Wahrheitsgehalt der Erzählung, auch ich selbst stelle mir die Frage, was historisch belegt ist, was Polo hinzu erfunden hat und was der künstlerischen Freiheit des Autors entspringt. "Ich alleine entscheide, was die Wahrheit ist", weist Polo die Kritik seines Mitgefangenen zurück, er verheimliche und schmücke aus, wie es ihm beliebe. Für den Leser ist das natürlich ein Glück, denn dadurch kommen spannende Handlungsverläufe und überraschende Wendungen hinzu, die in dem als "Il Milione" bekannten Reisebericht Polos nicht enthalten oder nur angedeutet sind. Plaschka hat hier keine Nacherzählung abgeliefert, sondern ein ganz und gar eigenständiges Werk, das die zeitlich und räumlich zerfaserte Handlung durch langsam aufgebaute Konflikte und einen geschickt verwobenen Metaplot zu einem geschlossenen Ganzen vereint.
Dabei tritt Oliver Plaschka als Erzähler in den Hintergrund. Es ist Marco Polo, der die Geschichte erzählt, in seiner eigenen gepflegten, zeitgenössische Sprache, nicht in der spielerisch-magischen Ausdrucksweise Plaschkas, die ich aus dessen früheren Werken kenne. Das ist ein bisschen schade, denn natürlich hatte ich mit einer entsprechenden Erwartungshaltung zu lesen begonnen. Aber vielleicht war diese Erwartung auch unrealistisch: Plaschka verlässt mit "Marco Polo" den Pfad der Phantastik und wendet sich einem neuen Genre und damit einer neuen Zielgruppe zu. Ein historischer Roman muss sich im Ton zwangsläufig von einer Fantasy-Geschichte unterscheiden.
Neben den Kapiteln, die die relevanten Ereignisse ausführlich behandeln, gibt es auch solche, in denen längere Zeiträume zusammengefasst werden. Das ist jedesmal ein auffälliger Einschnitt. Aber wie hätte Oliver Plaschka vierunddreißig Jahre Handlungszeit anders auf gut achthundert Romanseiten unterbringen sollen? Und manchmal, so zum Beispiel beim Beschreiben des Lebens und der Feste in der alten Kaiserstadt Quinsai, wird das Verstreichen der Zeit sogar zu einem wundersamen Flanieren durch ein Kabinett farbenfroher Dioramen, voller Poesie und der für Plaschka typischen Verliebtheit in die Sprache.
Ein wenig unschön sind in meinen Augen lange Abschnitte - sogar ein ganzes Kapitel - in kursiver Schrift, deren der Autor sich bedient, wenn die Erzählstimme ins Präsens wechselt. Die zusätzliche Hervorhebung hätte ich nicht gebraucht, um den besonderen Charakter dieser Passagen zu erfassen.
Das schmälert aber nicht den positiven Gesamteindruck, den "Marco Polo - Bis ans Ende der Welt" bei mir hinterlässt. Plaschka hat es nicht nur geschafft, mich fesselnd zu unterhalten, sondern auch mein Interesse für eine Epoche zu wecken, die im europazentrierten Geschichtsunterricht meiner Schulzeit höchstens als Randnotiz Erwähnung fand. Auch wenn er im Nachwort explizit betont, der Roman sei kein Geschichtsbuch, steckt in diesem doch genügend akkurat recherchiertes Hintergrundwissen, um sich ein gutes Bild vom Mongolischen Weltreich und dem China des dreizehnten Jahrhunderts machen zu können.
Eine Faszination, die über das Ende des Buches hinausreicht, übt das Spiel mit der Wahrheit aus, das Oliver Plaschka bis zur letzten Seite aufrecht erhält und das an das Ende des Films "Die üblichen Verdächtigen" erinnert. Die venezianische Maske auf dem Cover ist mehr als eine bloße Referenz an dessen Heimat. Sie thematisiert ein immer wiederkehrendes Motiv des Romans: Nie kann man sicher sein, ob eine Person wirklich diejenige ist, die sie zu sein vorgibt - nicht einmal bei Marco Polo selbst.
"Wie viele Väter hast du eigentlich?", wird er an einer Stelle des Buches gefragt. Ich weiß es. Aber ich verrate nichts.
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